Israel/Palästina und der Christliche Zionismus

24. Mrz 2020 | Tatsachen

Eine kritische Analyse

Peter Dettwiler

Ziel des Zionismus ist die Einverleibung des ganzen Landes Israel/Palästina. Im christlichen Zionismus hat er eine starke ideologische Stütze. Dieser rechtfertigt das zionistische Anliegen mit biblischen Argumenten und enthält sich aufgrund der christlichen Schuld gegenüber den Juden jeglicher Kritik an der kontinuierlichen Vertreibung der Palästinenser. Der Irrtum des christlichen Zionismus ist die fehlende Unterscheidung von Judentum und Zionismus, von Volk Gottes und Staat Israel. Es gibt ein auserwähltes Volk, aber keine auserwählte Nation. Die Errichtung des Staates Israel ist nicht die im Alten Testament verheissene «Heimholung aus den Nationen» und die militärischen Siege Israel sind keine göttlichen Wunder. Wer hier die Hand Gottes im Spiel sieht, glaubt an einen israelischen Kriegsgott, aber nicht an den Gott der Bibel. Der christliche Zionismus ist in den evangelischen Freikirchen dominant, aber auch in den reformierten Kirchen präsent. Es ist an der Zeit, dass die Kirchen sich von diesem christlichen Zionismus distanzieren, die Kairos-Bewegung der palästinensischen Christen unterstützen und aufmerksam auf die Stimme der prophetischen
Minderheit Israels hören.

«Der Zionismus ist, von innen heraus verstanden, die nationale Befreiungsbewegung der Juden.»1 – Die Entstehung der zionistischen Bewegung ging einerseits auf eine neue Welle der Judenverfolgung um 1880 in Russland zurück. Es war jedoch eine neue Form der Judenfeindschaft, die nicht mehr in erster Linie religiös begründet war, sondern rassistisch. Die jüdische Rasse war anders, minderwertig. Für diese Judenfeindschaft bürgerte sich der Begriff «Antisemitismus» ein. Der Zionismus war eine Reaktion auf diesen Antisemitismus. Andererseits war der Zionismus ein Kind des aufkommenden Nationalismus des 19. Jahrhunderts, dem wir zwei Weltkriege und viele weitere blutige Konflikte verdanken. Der Zionismus hat also eindeutig europäische Wurzeln. Das Ziel des Zionismus – die Errichtung eines eigenen Staates – lag jedoch im Nahen Osten, in Palästina. Doch auch dieses Gebiet stand unter europäischem Einfluss:

«In doppelter Hinsicht war also der Zionismus eine europäische Erscheinung: durch seine Entstehung vor dem Hintergrund der Lage der europäischen Juden in der nationalistisch aufgeladenen Atmosphäre Europas und weil seine Verwirklichung in Palästina nur dadurch möglich war, dass die europäischen Kolonialmächte nach dem Ersten Weltkrieg den Nahen Osten beherrschten, über die ehemals osmanischen Territorien nach ihren Machtinteressen verfügten und in diesem Rahmen das zionistische Projekt begünstigten. Dieses Projekt – und damit der Konflikt, den es auslöste – hatte keine Wurzeln in der Region, sondern wurde ihr von Europa aufgezwungen.»

Der Zionismus ist damit auch ein Kind des europäischen Kolonialismus. Die Siegermächte des Ersten Weltkrieges – Frankreich und Grossbritannien – teilten den Nahen Osten unter sich auf und zogen künstliche Grenzen, die ihren politischen, strategischen und wirtschaftlichen Interessen dienten ohne Rücksicht auf die Bevölkerungszusammensetzung – mit Auswirkungen bis heute! Diesen demütigenden europäischen Kolonialismus haben die Einheimischen bis heute nicht vergessen. Es ist also kein Wunder, dass die arabischen Staaten den mit westlicher Hilfe errichteten Staat «Israel» als ein kolonialistisches
Projekt Europas betrachteten.

Palästina

Palästina, dieser strategisch wichtige Streifen Land zwischen Jordan und Mittelmeer, stand immer schon unter Fremdherrschaft. Es war ab 1922 englisches Mandatsgebiet. Doch dieses Land war besiedelt. Es gab kein «Land ohne Volk». Im August 1925 schrieb Robert Weltsch, ein Freund Martin Bubers, in der «Jüdischen Rundschau»:

«Es gibt ein Volk ohne Land – aber es gibt kein Land ohne Volk (…) Palästina hat eine Bevölkerung von 700’000 Seelen, ein Volk, das seit Jahrhunderten im Lande lebt und mit vollem Recht dieses Land als sein Vaterland und seine Heimat betrachtet. Mit dieser Tatsache haben wir zu rechnen. (…) Palästina wird stets von zwei Völkern bewohnt sein, von Juden und Arabern (…). Das Land kann nur gedeihen, wenn zwischen den beiden Völkern ein Verhältnis gegenseitigen Vertrauens besteht. Ein solches Verhältnis kann aber nur entstehen, wenn diejenigen, die neu hinzukommen – und das sind in diesem Fall wir – mit dem ehrlichen und aufrichtigen Willen kommen, mit dem andern Volk zusammenzuleben, auf der Basis gegenseitigen Respektes und selbstverständlicher Achtung aller menschlichen und nationalen Rechte. (…) Die Verwirklichung des Zionismus ist undenkbar, wenn es nicht gelingt, das zionistische Werk in den Rahmen der zu immer stärkerem Bewusstsein erwachenden orientalischen Welt einzugliedern.»

Bereits 1891 schrieb Asher Ginzberg, ein russischer Jude (im heutigen Israel bekannt unter dem Namen Ahad Ha’am) über seine Eindrücke von einer Reise nach Palästina in einem Artikel «Die Wahrheit über das Land Israel»:

«Wir ausserhalb von Israel glauben für gewöhnlich, dass das Land Israel heute fast gänzlich verödet, dürr und unbebaut ist und dass jeder, der Land kaufen will, dies grenzenlos tun könne. Die Wahrheit sieht aber anders aus. Im ganzen Land ist es schwer, bebaubares Land zu finden, das nicht schon bebaut ist (…). Wir ausserhalb von Israel glauben für gewöhnlich, dass die Araber Wilde aus der Wüste sind, ein eselsgleiches Volk, das weder sieht, noch versteht, was um es herum geschieht. Doch das ist ein grosser Irrtum. Der Araber hat wie alle Söhne Sems einen scharfen, gewitzten Verstand (…) Sollte es eines Tages dazu kommen, dass sich das Leben unseres Volkes [der Juden] im Land Israel bis zu einem Punkt entwickelt, an dem wir das ansässige Volk zurückdrängen, und sei es auch nur ein klein wenig, so wird Letzteres seinen Platz nicht umstandslos aufgeben.»

Es sind prophetische Worte. Bis heute ist es nicht gelungen, Israel in die orientalische Welt zu integrieren. Nach wie vor ist Israel/Palästina von zwei Völkern bewohnt. Und nach wie vor sind die Palästinenser nicht bereit, ihre Heimat widerstandslos zu räumen. Ihre Schwächen sind offensichtlich: Militärische Unterlegenheit, innere Zerrissenheit, erfolgloser terroristischer Widerstand, vom Westen wie auch von den arabischen Staaten im Stich gelassen. Ihre Stärke jedoch ist «sumud», Widerstandskraft, Ausdauer, Resilienz. Israel hat diese palästinensische Stärke bis heute unterschätzt.

Der Irrtum des christlichen Zionismus

Das Ziel des Zionismus war und ist es, so viel von diesem Land mit so wenig Palästinensern wie möglich zu erobern. Der christliche Zionismus unterstützt dieses Anliegen vorbehaltlos und mit biblischen Argumenten. Er gehört damit zu den einflussreichsten und treusten Unterstützern Israels und seiner Politik der kontinuierlichen Vertreibung und Unterdrückung der Palästinenser. Der christliche Zionismus sieht in der Errichtung des Staates Israel die Erfüllung alttestamentlicher Prophezeiungen und ein Zeichen des nahenden Weltendes. Dies ist, um es gleich vorwegzunehmen, ein fataler Irrtum! Die Gründung des Staates Israel ist nicht die im Alten Testament angekündigte «Heimholung aus den Nationen und aus allen Ländern» (Ezechiel 36,24)! Das ist ein biblischer Kurzschluss und eine oberflächliche Bibelauslegung. Nur schon Sacharja 4,6 verbietet diese Interpretation: «Nicht durch Kraft und nicht durch Stärke, sondern mit meinem Geist!, spricht der Herr der Heerscharen.» Martin Buber, der grosse jüdische Religionsphilosoph (1878-1965) verweist immer wieder auf Jesaja 1,27: «Zion wird losgekauft werden durch Recht, und seine Bekehrten mit Gerechtigkeit.» Es gibt keine Wunder bei der Gründung des Staates Israel. Wer in den von Israel gewonnen Kriegen die Hand Gottes im Spiel sieht, glaubt an 3 einen israelischen Kriegsgott, aber nicht an den Gott der Bibel. Am 18. Februar 1948 schrieb David Ben Gurion:

«Wenn wir die Waffen, die wir bereits gekauft haben, rechtzeitig erhalten, und vielleicht sogar einige, die die UN uns versprochen haben, können wir uns nicht nur verteidigen, sondern auch den Syrern in ihrem eigenen Land tödliche Schläge versetzen – und ganz Palästina einnehmen. Daran hege ich keinerlei Zweifel. Wir können es mit den gesamten arabischen Truppen aufnehmen. Das ist kein Wunderglaube, sondern kühle, nüchterne Berechnung aufgrund praktischer Untersuchungen.»

Und bezugnehmend auf den Krieg von 1967 schrieb Jeshajahu Leibowitz, Biochemiker und jüdischer Religionsphilosoph (1903-1994):

 «Die jüdische Geschichte zeigt, wie unbedeutend Wunder von einem religiösen Gesichtspunkt sind. Juden haben ihren Glauben nicht wegen erfahrener Wunder bewahrt. Es war ihr Glaube, der sie dazu führte, ihre historischen Erfahrungen als wunderbar zu interpretieren. Bezugnahme auf das Wunder des Sechstagekrieges ist eitles Geschwätz. Das Wunder besteht darin, dass wir eine moderne Armee aufgebaut haben, während die arabischen Gesellschaften noch nicht dazu in der Lage sind.»

Es gibt ein auserwähltes Volk, aber keine auserwählte Nation – weder Israel, noch die USA noch die Schweiz.

Der Irrtum des christlichen Zionismus liegt einerseits darin, dass er meint, die historische Schuld der Christenheit gegenüber dem Judentum mit einer bedingungslosen Solidarität mit dem Staat Israel wettmachen zu müssen. Das ist ein billiger Ablasshandel. Zudem führt genau diese Haltung zu einer neuen Schuld: Jener gegenüber dem palästinensischen Volk. Zum andern fehlt es dem christlichen Zionismus an der so dringend nötigen Differenzierung: Er unterscheidet nicht zwischen Israeliten und Israelis, zwischen dem biblischen Israel und dem heutigen Staat Israel, zwischen Volk Gottes und der Nation Israel, zwischen Judentum und Zionismus, zwischen israelischer und jüdischer Identität. Der christliche Zionismus subsummiert alle diese Begriffe unter dem Stichwort «Israel»: Freunde Israels, Gebet für Israel, an der Seite Israels. Eine sträfliche Vereinfachung!

Die Entstehung des Staates Israel im «Heiligen Land» ist ohne Zweifel ein historisches Ereignis und eine neue Etappe in der Geschichte des jüdischen Volkes. Aber es ist kein Indiz für die Ankunft oder Wiederkunft des Messias! Denn die Errichtung dieses Staates basiert auf einem fundamentalen Unrecht: Auf der gewaltsamen Vertreibung eines anderen Volkes und dessen Unterdrückung – bis heute. Albert Einstein machte sich grundlegende Gedanken zu einem jüdischen Staat:

«Die Vorstellung eines jüdischen Staates mit Grenzen, einer Armee und einer gewissen weltlichen Macht, wie bescheiden sie auch sein mag, widerstrebt meinem Verständnis des Wesens des Judentums. Ich befürchte, dass das Judentum dadurch Schaden nimmt und vor allem dass sich in unseren Reihen ein engstirniger Nationalismus entwickelt (…) Die Rückkehr zu einer Nation im politischen Sinn käme einer Abwendung von den geistigen Grundlagen unserer Gemeinschaft gleich, einer Spiritualität, der wir das Genie unserer Propheten verdanken.»

Marc Ellis vergleicht die Staatwerdung des Judentums mit der konstantinischen Wende des Christentums und spricht vom «konstantinischen Judentum». Dreihundert Jahre lang waren die christlichen Gemeinschaften von Verfolgung bedroht. Im vierten Jahrhundert wendete sich das Blatt: Das Christentum wurde zur Staatsreligion und verbündete sich mit der staatlichen Macht. Eine folgenreiche Kehrtwende in der Geschichte des Christentums!

«Der Weg der Macht wurde von der jüdischen Gemeinschaft in Israel und Amerika längst eingeschlagen, die Eroberung Palästinas ist praktisch abgeschlossen; die jüdische Überlegenheit in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht ist ohne Beispiel in der jüdischen Geschichte.» (Marc Ellis, Professor und Direktor des Zentrums für amerikanische und jüdische Studien an der Baylor-Universität in Waco, Texas).

Die Palästinenser

Die Palästinenser Das «Existenzrecht» Israels steht nicht zur Diskussion. Seit dem 11. Mai 1949 ist der Staat Israel Mitglied der UNO. Seine Existenz als Teil der Völkergemeinschaft ist nicht in Frage gestellt, schon gar nicht mit der bedingungslosen Unterstützung der USA. Wohl aber wird das Existenzrecht des palästinensischen Volkes praktisch geleugnet und die Bildung eines palästinensischen Staates von Israel bis heute mit allen Mitteln verhindert. Es fällt den jüdischen wie den christlichen Zionisten schwer, dieser Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Am 27. März 1949 sagte Martin Buber zu David Ben Gurion:

 «Wir müssen die Realität sehen, dass Israel weder unschuldig noch erlöst worden ist. Und dass bei seiner Entstehung und Expansion wir als Juden das, was wir historisch erlitten haben, wiederum erzeugt haben, nämlich ein Volk von Flüchtlingen in der Fremde.»

«Flüchtlinge in der Fremde» – und in der eigenen Heimat:

«Meine Mutter kam während der osmanischen Besatzung auf die Welt. Ich wurde während der englischen Besatzung geboren, meine Kinder während der jordanischen, deren Kinder während der israelischen. Es gibt immer jemanden, der dieses Land will, aber nie jemanden, der uns will. Ist das keine Tragödie?» Amelie Dschaqaman, Palästinenserin.

Immer schon lebten die Bewohner Palästinas unter fremder Herrschaft. Abgesehen von der kurzen Periode der drei ersten Könige Saul, David und Salomo des biblischen Israels bestimmten fremde Mächte das Schicksal dieses Landes: Die Assyrer im achten Jahrhundert, die Babylonier und dann die Perser im sechsten Jahrhundert, die Griechen unter Alexander im vierten und die Römer ab dem ersten Jahrhundert v.Chr. Im vierten Jahrhundert folgten die Byzantiner, im siebten Jahrhundert die Araber, im elften Jahrhundert die Tataren, im zwölften Jahrhundert die Kreuzritter, gefolgt von den Ayyubiden (1187), wieder den Tataren (1244), den Mamelucken (1291) und den Mongolen (1401). Dann folgte die vierhundertjährige osmanische Herrschaft, die von den Briten und schliesslich den Israelis abgelöst wurde.

Die palästinensischen Christen verstehen die alttestamentliche Erzählung (1. König 21) vom Winzer Nabot, der vom König Israels enteignet und ermordet wurde, um an dessen Grundstück zu gelangen als Gleichnis für ihr eigenes Schicksal, das sie zu Fremden im eigenen Land macht.

Wem gehört dieses Land?

«Wir sind in der Jugendbewegung Bnei Akiva, in den Siedlungen und beim Gush Emunim mit diesem Slogan aufgewachsen: ‘Das Land Israel gehört dem Volk Israel.’ Aber genau darauf müssen wir verzichten, wir müssen loslassen. Dieses ‘Besitzstandsverhältnis’ muss beendet werden. Rabbi Menachem hat immer gesagt, hier sei das Land des Friedens und dass dieses Land Gott gehöre. Es erfordert gewaltige Arbeit, das eigene Bewusstsein zu befreien und die Tatsache anzuerkennen, dass wir nicht ‘Herren des Landes’ oder ‘Eigentümer des Landes’ sind, sondern zu diesem Land gehören. Und damit kehrt sich der Slogan um: ‘Das Volk Israel gehört zum Land Israel’, genauso wie die Palästinenser zum Land Israel, zu Palästina gehören.» Eli’az Cohen.

Auch die palästinensischen Christinnen und Christen unterstützen diese Haltung, die sie in ihrem wichtigen Dokument «Kairos-Palästina» vom Dezember 2009 festhalten: Das Land Palästina ist auch ihr Land und ihre Heimat, aber nicht im ausschliessenden Sinn:

«Unser Land ist wie alle Länder auf der Welt Gottes Land. Es ist heilig, weil Gott darin gegenwärtig ist, denn Gott allein ist heilig und Gott allein heiligt.» Und: «Gott hat uns als zwei Völker hierher gestellt, und Gott gibt uns, wenn wir es nur aufrichtig wollen, auch die Kraft, zusammenzuleben und Gerechtigkeit und Frieden zu schaffen, das Land wahrhaft in Gottes Land zu verwandeln» (2-3-1, www.kairospalestine.ps).

Der Zionismus jedoch sieht dieses Land ausschliesslich für das jüdische Volk reserviert. 1937 hielt David Ben Gurion fest:

«Das Land ist in unseren Augen nicht das Land seiner jetzigen Bewohner (…) Wenn man sagt, dass Eretz Israel das Land zweier Nationen sei, so verfälscht man die zionistische Wahrheit doppelt. (…) Palästina muss und soll nicht die Fragen beider Völker lösen, sondern nur die Frage eines Volkes, des jüdischen Volkes in der Welt.»

Diese Meinung vertritt nach wie vor der christliche Zionismus vehement und mit biblischen Zitaten, d.h. er unterstützt die Delegitimierung des palästinensischen Volkes, das keinen Anspruch auf dieses Land habe, mit göttlichem «Geschütz». Die Zionisten zielten von Anfang an auf das ganze Land. Und weil sie wussten, dass es kein «Land ohne Volk» gab, war immer klar, dass die Bewohner dieses Landes – die Palästinenser – wenn nötig mit Gewalt vertrieben werden mussten:

«Den Privatbesitz der angewiesenen Ländereien müssen wir sachte expropriieren. Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenz zu schaffen, indem wir ihr in den Durchzugsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem eigenen Lande jederlei Arbeit verweigern. Die besitzende Bevölkerung wird zu uns übergehen. Das Expropriationswerk muss – ebenso wie die Fortschaffung der Armen – mit Zartheit und Behutsamkeit erfolgen. Die Immobilienbesitzer sollen glauben, uns zu prellen, uns über den Wert zu verkaufen, aber zurückverkauft wird ihnen nichts.» Theodor Herzl in seinem Tagebuch.

Schonungslos und nüchtern sah es Vladimir Jabotinsky, Führer der rechten Zionisten, in seinem Artikel «Der eiserne Schutzwall» 1923:

«Ein Kompromiss zwischen den palästinensischen Arabern und uns ist im Moment und in absehbarer Zeit ausgeschlossen (…) Jedes Volk wird gegen Kolonisatoren kämpfen, solange es auch nur einen Funken Hoffnung hat, dass es die Gefahr der Kolonisierung loswerden kann. Genau das tun auch die palästinensischen Araber, und sie werden es weiter tun, solange es auch nur einen Funken Hoffnung gibt.»

Das Wort, das in diesem Zusammenhang in den zionistischen Dokumenten immer wieder auftaucht, heisst «Transfer», deutlicher formuliert: Die gewaltsame Vertreibung von palästinensischen Männern, Frauen und Kindern. 1940 umriss Yossef Weitz das Ziel glasklar:

«Transfer dient nicht nur einem Ziel – die arabische Bevölkerung zu reduzieren –, sie dient auch einem zweiten, keineswegs unwichtigen Zweck, nämlich: Land zu räumen, das derzeit von Arabern bestellt wird, und es frei zu machen für jüdische Besiedlung. (…) Die einzige Lösung ist, die Araber von hier in Nachbarländer umzusiedeln. Kein einziges Dorf und kein einziger Stamm darf ausgelassen werden.»

Die ethnische Säuberung Palästinas

Viele Propagandalügen bezüglich der Errichtung des Staates Israel halten sich hartnäckig und werden insbesondere von den christlichen Zionisten unermüdlich verbreitet und verteidigt. Eine von ihnen ist die angebliche Flucht der meisten Palästinenser 1948, ausgelöst durch falsche Versprechen der arabischen Staaten. Ilan Pappe hat diesen Mythos in seinem bahnbrechenden Buch «Die ethnische Säuberung Palästinas» aufgrund historischer Dokumente klar und eindeutig widerlegt. Er wurde dafür zur Unperson in Israel erklärt und lebt heute ein England. Doch fachlich hat ihm bis heute niemand widersprechen können.

Der UN-Teilungsplan vom 29. November 1947 sah für die knapp 2 Millionen Einwohner (1’972’000) folgende «Lösung» vor: 56.47 % des Landes (inkl. die fruchtbaren Teile der Küstenebene) sollten der jüdischen Bevölkerung zustehen. Diese machte nur einen Drittel der Bevölkerung (608’000) aus und besass 5.6 % des Bodens. Nur 42.8 % des Landes dagegen waren für die palästinensische Bevölkerung vorgesehen, die zwei Drittel der Bevölkerung (1’364’330) stellte und knapp 95 % des Landes besass. Nach dem Krieg 1948 kontrollierte Israel 72 % des Landes. Von den gegen 900’000 Palästinensern auf diesem Gebiet blieben noch 150’000 übrig. Israel akzeptierte den Teilungsplan, mit dem Kalkül, den zionistischen Traum vom Besitz des ganzen Landes Schritt für Schritt verwirklichen zu können. Die Palästinenser lehnten den Teilungsplan ab, was aus damaliger Sicht verständlich, aber aus heutiger Sicht wohl ein Fehler war.

Auch der Krieg von 1948 hat nichts mit einem göttlichen Wunder oder mit dem Kampf von David (Israel) gegen Goliath (die arabischen Staaten) zu tun.

«Die arabischen Staaten hatten insgesamt 28’000 Soldaten, waren schlecht ausgerüstet, ihre Aktionen waren schlecht koordiniert und voller Misstrauen mit Blick auf König Abdullah von Jordanien, der seit zwei Jahren mit dem Jishuv [der in Israel ansässigen jüdischen Gemeinschaft] verhandelte, um durch einen möglichen Kompromiss mit den Juden die Westbank zu kassieren. Bis Ende Oktober 1948 stieg die Zahl der arabischen Soldaten auf etwa 55’000.»

Dieser Krieg war für den Zionismus die Gelegenheit, so viel von diesem Land mit so wenig Palästinensern wie möglich zu erobern. Bereits vor der Ausrufung des Staates Israel am 14. Mai 1948 und dem Angriff der arabischen Truppen waren rund 200 palästinensische Ortschaften besetzt und bereits gegen 300’000 Bewohner vertrieben. Ilan Pappe hat nachgewiesen, dass die Vertreibung der Palästinenser nach einem klaren Plan – dem Plan D (hebräisch Dalet) – vorgesehen war und durchgeführt wurde:

«Nachdem die Entscheidung gefallen war [die Vertreibung der Palästinenser nach Plan D], dauerte es sechs Monate, den Befehl auszuführen. Als es vorbei war, waren mehr als die Hälfte der ursprünglichen Bevölkerung Palästinas, annähernd 800’000 Menschen, entwurzelt, 531 Dörfer zerstört und elf Stadtteile entvölkert. Der am 10. März 1948 beschlossene Plan und vor allem seine systematische Umsetzung in den folgenden Monaten war eindeutig ein Fall ethnischer Säuberung, die nach heutigem Völkerrecht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gilt.»

«Insgesamt handelt es sich bei den beschriebenen Vorgängen um einen Akt massiver ethnischer Säuberung, dem der Staat Israel seine verhältnismässige ethnische Homogenität verdankt. Wenn man das zionistische Ziel der Errichtung eines jüdischen Staates voraussetzt, war diese Politik konsequent. Sie war aber völkerrechtswidrig und ging mit zahlreichen massiven Kriegsverbrehen einher. Damit der Staat Israel gegründet werden konnte, wurde den Palästinensern ihre Heimat genommen.»

Die Vertreibung der Palästinenser ging jedoch auch nach dem Krieg von 1948 weiter:

«Einige wohlbekannte Meilensteine in diesem Prozess [der ethnischen Säuberung] sind die Vertreibung der Bevölkerung weiterer Dörfer in Israel selbst zwischen 1948 und 1956, der gewaltsame Transfer von 300’000 Palästinensern aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen während des Krieges von 1967 und eine langsame, aber beständige Säuberung der Palästinenser des Gebietes ‘Grossjerusalem’ (bis zum Jahr 2000 mehr als 250’000).»

Die ethnische Säuberung Palästinas ging Hand in Hand mit einer enormen Enteignung der palästinensischen Bevölkerung, für die sie bis heute keine Entschädigung erhalten hat: Am Ende des britischen Mandats befanden sich ca. 8 % des Territoriums, das dann der Staat Israel wurde, in jüdischem Besitz. Wenige Jahre später waren es 93 %: Ein enormer, nachträglich durch israelische Gesetze legalisierter Landraub! Auch die christlichen Kirchen waren gegen diesen Landraub nicht gefeit. Konfisziert wurden auch palästinensische Privatfirmen, Banken, Apotheken, Hotels, Busunternehmen, Kaffeehäuser, Restaurants, Werkstätten usw. Ein weiterer wichtiger Schritt zionistischer Expansionspolitik war die Verhinderung der Rückkehr der Palästinenser. Viele palästinensische Dörfer wurden zerstört und in neue jüdische Siedlungen oder in Naturparks umgewandelt. Dass unter den ca. 750’000 vertriebenen Palästinensern auch rund 50’000 Christen waren, lässt der christliche Zionismus unbeachtet. Für die Palästinenser ist dieses Ereignis die «Nakba», die Katastrophe, ein Wort, das in Israel tabu ist. Es fällt schwer, das zu akzeptieren: Dass der Staat Israel auf einem fundamentalen Unrecht aufgebaut ist. Israel versucht diese Wahrheit mit allen Mitteln zu leugnen oder zu verschleiern. Doch ohne ein Eingeständnis dieser Schuld, wird es in Israel/Palästina nie Frieden geben.

«Wenn Israel nicht anerkennt, dass es die Hauptrolle bei der Enteignung der palästinensischen Nation gespielt hat und weiter spielt, und wenn es die Konsequenzen nicht akzeptiert, die aus der Anerkennung der ethnischen Säuberung erwachsen, sind alle Lösungsversuche des Israel-Palästina-Konflikts zum Scheitern verurteilt.»

«Die Nakba und die Flüchtlingsfrage blieben durchgängig von der Friedensagenda ausgeschlossen. Um das zu verstehen, muss man sich verdeutlichen, wie tiefgreifend die Verleugnung der 1948 begangenen Verbrechen bis heute in Israel ist, und sie in einen Zusammenhang stellen mit einer ehrlich empfundenen Angst einerseits und einem tief verwurzelten antiarabischen Rassismus andererseits, die beide massiv manipuliert werden.»

Felicia Langer, (1930 – 2018), deutsch-israelische Rechtsanwältin und Menschenrechtsaktivistin, Inhaberin zahlreicher Ehrungen, u.a. des alternativen Nobelpreises und des Bundesverdienstkreuzes, sie und ihr Mann beide Holocaust-Überlebende, erzählt, dass sie schon 1950 in Israel das grosse Unrecht realisierte:

«Von Anfang an sah ich mich mit der Diskriminierung der unter Militärherrschaft stehenden Palästinenser in Israel konfrontiert. Ich sah, wo Israel 1948 und auch noch danach palästinensische Dörfer zerstört hatte. Ich hörte vom bitteren Los der palästinensischen Flüchtlinge, die 1948 und auch noch danach vertrieben worden oder aufgrund der gegen die palästinensische Bevölkerung gerichteten Massaker geflohen waren. Schon damals erkannte ich das Ausmass der palästinensischen Tragödie und Israels Verantwortung dafür. Dieses Bewusstsein hat mein Leben geprägt. Bis zum heutigen Tag. Schon damals war ich zum Schluss gekommen, dass ein gerechter Friede zwischen Israel und den Palästinensern nur möglich wird, wenn Israel seine Verantwortung für die palästinensische Tragödie eingesteht, mit allem was dazu gehört.»

Die Shoah – der Holocaust

«Diese [jüdische] Leidensgeschichte erreicht in der Shoah ihre bis heute kaum je verstandene Kulmination; die Erinnerung an sie ist für die meisten Juden ein identitätskonstituierender Faktor. (…) Wer aber denkt, dass die Erinnerung an sie aus der jüdischen und israelischen Psyche wegzudenken ist, gibt sich einer Illusion hin. Das jüdische Volk wird von dieser Katastrophe für immer geprägt sein.» Carlo Strenger

Die Shoah – die geplante Vernichtung des jüdischen Volkes aus einem Rassenwahn heraus – ist in der menschlichen Geschichte beispiellos. Es ist ein Genozid, der gleichwohl kaum mit anderen Genoziden verglichen werden kann. Eine Ärztin aus Tschernobyl sagte 30 Jahre nach der Atomkatastrophe: «Wir leben nicht nach Tschernobyl, wir leben mit Tschernobyl.» Die «Verstrahlung» aus dem Holocaust bleibt und prägt das Judentum. Traurig ist jedoch, dass die Shoah von der israelischen Regierung auf vielfältige Weise instrumentalisiert wird. Carlo Strenger bringt es auf den Punkt:

«Was aus der Shoah gelernt werden muss, ist nicht ‘das darf uns Juden nie wieder geschehen’, sondern ‘dies darf überhaupt nie wieder geschehen’.»

Verantwortlich für dieses Verbrechen ist nicht Deutschland allein. Praktisch alle europäischen Staaten haben den Nazis direkt oder indirekt Juden ans Messer geliefert, auch die Schweiz. Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Offenbarwerden der Massenvernichtungen erfuhren die ca. 460’000 überlebenden Juden in Europa keine Solidarität. Niemand wollte sie aufnehmen. Sie wurden zur politischen Manövriermasse zwischen den USA, Grossbritannien und der Zionistischen Organisation. Und der Westen war froh, sie in Palästina loszuwerden.

Zudem ist der Holocaust die schreckliche Spitze eines Eisberges, nämlich einer mehr als tausendjährigen Feindschaft des christlichen Abendlandes gegenüber dem Judentum mit immer wiederkehrenden Pogromen, Vertreibungen, Ausgrenzungen. Diese christliche Judenfeindschaft hat ihre Wurzeln in der «Ersatztheologie», jener Irrlehre, nach der die Kirche als neues Volk Gottes das alte Volk Gottes ablöste. Das «auserwählte Volk» hatte ausgedient, sein ewiger Bund mit Gott war hinfällig geworden, und mit der Verweigerung, den Juden Jesus als den lang erwarteten Messias zu anerkennen, war sein Existenzrecht als «Volk Gottes» verwirkt.

Volk Gottes – auserwähltes Volk

Erwählung weist nach christlich-biblischem Verständnis immer über den oder die Erwählten hinaus auf das Ganze: Die Erwählung Abrahams meint die Erwählung aller Menschen, denn durch ihn sollen alle Segen erlangen. Die Rettung Noahs und seiner Familie zielt auf die Rettung der Menschheit, ja der ganzen Schöpfung. Die Erwählung dieses Volkes meint die Erwählung aller Völker. Israels Erwählung steht im Horizont eines Gottes, der keine lokale oder nationale Gottheit, sondern der Schöpfergott und nach christlichem Bekenntnis der dreieinige Gott ist. In den Psalmen und Prophetenbüchern wird dieser weite Horizont von Gottes Heilswillen in immer neuen Bildern gepriesen: „Denn gross, über den Himmel hinaus, ist deine Güte, und bis an die Wolken reicht deine Treue“ (Ps 18,5). – Warum denn konzentriert sich Gottes Zuwendung in dieser scheinbar ausschliesslichen Weise auf dieses eine, kleine, unbedeutende Volk auf einem schmalen Streifen Land, der wegen seiner strategischen Lage schon immer umworben und umstritten war? – Doch wohl darum, weil Gott Liebe ist und weil Liebe konkret ist – oder sie ist nicht wirklich Liebe. Gottes Liebe zu den Menschen konkretisiert sich, verdeutlicht sich und wird „geschichtlich“ in der Liebe zu diesem einen Volk, das exemplarisch für seine Liebe zu allen Menschen und allen Völkern steht. Das verdeutlicht, wie gerade die reformierte Theologie erkannt hat, der Bund, den Gott mit diesem Volk eingeht: „Ihr werdet mein Volk sein und ich werde euer Gott sein“ (Ez 36,28), das ist die knappe Formel für dieses Liebesverhältnis. Nun ist jedoch Israel dieses auserwählte und geliebte Volk Gottes nicht für sich allein, nicht zum Selbstzweck, nicht um sich darin selbst zu genügen, vielmehr um in diesem Bundesverhältnis exemplarisch zu verdeutlichen, dass alle Menschen und alle Völker zur Gemeinschaft mit Gott gerufen sind. Die reformierte Bundestheologie betont zudem die Einheit des Bundes im Alten und Neuen Testament und interpretiert damit den Bund Gottes mit seinem Volk als Gottes Hinwendung zum Menschen, die im Bund mit Noah und mit der Schöpfung verankert ist und im neuen Bund mit Jesus auf alle Menschen und Völker geöffnet und ausgeweitet wird.

Erwählung ist demnach nicht Besitz, sondern Berufung. Sowohl das Judentum wie das Christentum haben ihre „Erwählung“ immer wieder missverstanden als ausschliesslichen Besitz, statt als einen Auftrag und eine Sendung, welche immer über den Beschenkten und Erwählten hinaus auf die ganze Menschheit und die ganze Schöpfung weist. Die Propheten prangern diesen exklusiven Erwählungsglauben immer wieder an und warnen Israel vor einer falschen Selbstsicherheit, die dazu verleitet, Gott ausschliesslich auf seiner Seite zu wissen. Wem gelten die 10 Gebote? Wem gehört das „Heilige Land“? Wem gehört Gottes Liebe? Wem gehört Jesus? – Sind nicht die 10 Gebote, die dem Volk Gottes anvertraut wurden, ein Geschenk des Judentums an die ganze Menschheit? Verdeutlicht nicht das „heilige“ Land, in dem Gottes Zuwendung Geschichte geworden ist, dass ihm die ganze Erde „heilig“ ist, denn ihm „gehört die Erde und was sie erfüllt, der Erdkreis und die ihn bewohnen“ (Ps 24,1)? Und führt nicht das Bekenntnis zu Jesus als dem Messias und Gottessohn zum Bekenntnis des dreieinigen Gottes, dessen Liebe gerade nicht auf einen exklusiven Kreis von Gläubigen, seien sie jüdisch oder christlich, beschränkt ist, sondern der alle Menschen seine Kinder nennt und dessen Geist weit über eine Religion hinaus wirkt? Als religiöser Jude hält Gershom Gorenberg fest:

«Die ersten Lehren aus den heiligen Schriften des Judentums in den biblischen Büchern Genesis und Exodus sind, dass alle Menschen nach dem Ebenbild Gottes erschaffen wurden und Freiheit verdienen.»

Judentum und Zionismus

Die Unterscheidung zwischen Zionismus und Judentum ist wichtig. Der Wunsch jüdischer Menschen nach einem eigenen Staat, in dem sie unter ihresgleichen die Mehrheit bilden und vor der immer wiederkehrenden Verfolgung sicher sind, ist legitim und verständlich. Erst recht nach der Erfahrung des Holocaust und dem Versagen des christlichen Abendlandes, jüdische Gemeinschaften gleichberechtigt zu integrieren. Dass die Verwirklichung dieses Traumes jedoch mit der brutalen und anhaltenden Vertreibung und Unterdrückung des palästinensischen Volkes einhergeht, ist im Grunde genommen ein Verrat am Judentum, an den wahren jüdischen Werten. Hayjo Meyer (1924 – 2014), deutsch-niederländischer Physiker und Autor, der Auschwitz überlebte, schrieb die folgenden Worte:

«Da meine Lebenserfahrung in der Einsicht gipfelt, dass wir Juden in unserem Verhalten sehr weit fernbleiben müssen von dem unserer Unterdrücker, muss ich mich von dem Betragen eines Staates, der sich zu Unrecht jüdisch nennt, aber nur zionistisch ist, distanzieren. Ich will mich nun mal nicht schämen müssen und darum werde ich, solange ich lebe, versuchen, der Welt deutlich zu machen, dass das Betragen von Israel mit dem Judentum, wie ich es liebe, wenig oder nichts zu tun hat.»

In einem Artikel von 1948 «Zweierlei Zionismus» nimmt Martin Buber Bezug auf den uralten Wunsch der Juden, «wie alle Völker» zu sein (vgl. 1. Samuel 8,5):

«Es ist damals den Juden nicht gelungen, normal zu werden. In dieser Stunde scheint es ihnen in einem furchtbaren Masse zu gelingen. Nie im Lauf unserer Geschichte waren Geist und Leben so fern voneinander wie jetzt in dieser Epoche der ‚Wiedergeburt‘. (…) Dieser ‚Zionismus‘ entweiht den Namen Zion; er ist nichts mehr als einer der krassen Nationalismen unserer Zeit, die keine höhere Autorität als das – vermeintliche! – Interesse der Nation anerkennen. (…) Ich fürchte, dass ein Sieg der Juden eine Niederlage des Zionismus bedeuten wird.»

Die Vision für einen anderen Zionismus sieht Buber dagegen in einem «Kondominium», einem gemeinsamen Haus, in dem beide Völker gleichberechtigt leben und handeln:

«Anders als in der [biblischen] Urzeit dürfen wir mit dem jetzt darin ansässigen Volk einen Bund schliessen, um gemeinsam mit ihm das Land zum Vorland Vorderasiens zu entwickeln – zwei selbständige Völker gleichen Rechtes, jedes Herr in seiner Gesellschaft und Kultur, aber beide vereint in dem gemeinsamen Werk der Erschliessung und Produktivierung an der gemeinsamen Heimat und in der gemeinsamen föderativen Verwaltung der gemeinsamen Geschäfte.»

Konkret wurde Martin Buber in einer Antwort an Gideon Freudenberg, ebenfalls 1948, in der er die Situation ungeschminkt und prophetisch beschreibt und sich offenbar bewusst ist, dass dieser andere Zionismus eine Vision bleiben wird:

«Die erste Haupttatsache ist, dass wir unsere Besiedlungsarbeit unternommen haben, ohne uns mit der Bevölkerung dieses Landes über deren Grundlagen und Bedingungen zu verständigen. Statt dessen haben wir uns darüber (wenn auch sehr unvollständig) mit einem Staat [Grossbritannien] verständigt, der auf eine Herrschaftsstellung in diesem Land keinen Anspruch hatte (…). Daraus hat sich ergeben, dass diejenigen Araber, die sich um die Zukunft ihres Volkes Gedanken und Sorgen machten, uns in zunehmendem Masse nicht als Gruppe, die mit ihnen zusammenleben und zusammenwirken will, sondern als Eindringlinge und Vertreter fremder Interessen betrachteten. (Es sind jetzt 30 Jahre, seit ich auf diese Tatsache hinzuweisen begonnen habe.)

Die zweite Tatsache ist, dass wir der Bevölkerung dieses Landes ihre wichtigsten natürlichen Wirtschaftspositionen genommen haben, ohne diese dadurch zu kompensieren, dass wir sie an unserer Wirtschaftsaktion und ihren Erfolgen beteiligt hätten. (…) Die dritte Tatsache ist, dass wir (…) der arabischen Bevölkerung dieses Landes nicht bloss keinen Vorschlag machten, ein jüdisch-arabisches Kondominium an dessen Stelle zu setzen, sondern aus unserem Vordringen nunmehr die politischen Folgerungen zogen, den Anspruch auf die Beherrschung des ganzen Landes zu erheben. (…)

[Das alles mündet in die existentielle Bedrohung,] … dass der Friede, wenn er kommt, kein Friede sein wird; dass es nicht der echte, positive, grosse, bauende, schaffende, Gemeinschaft stiftende, grosse Kulturwerke ermöglichende Friede sein wird, den wir brauchen, sondern ein negativer Friede, ein Nichtkrieg, der in jedem Augenblick, in jeder veränderten Konstellation in einen neuen Krieg umschlagen kann. Und wie wollen Sie dann, in der Epoche eines solchen Scheinfriedens, gegen den ‚Geist des Militarismus‘ kämpfen? Dann, wenn die Führer eines extremen Nationalismus in unserer Mitte es leicht haben werden, die Jugend zu überzeugen, dass es um der Erhaltung unseres Volkes willen unerlässlich ist? Der Kampf wird aufhören – aber wird das Misstrauen aufhören, wird das Ressentiment aufhören, wird Durst nach Revanche aufhören? Und werden wir nicht rüsten und rüsten müssen, um dagegen gerüstet zu sein? Werden sich nicht unsere besten Kräfte darin aufzehren? ‘Mit der einen Hand die Arbeit tuend und die andre hält das Kurzschwert’ – so kann man eine Mauer bauen, aber keinen Tempel. [Anspielung auf Nehemia 4,11] (…) Für äussere ‚Erlösungen‘ kann man mit Blut zahlen, die innere Erlösung muss man damit erkaufen, dass man der Wahrheit standhält und umkehrt.»

Besatzung und Besiedelung

Die «Mauer» bzw. «Sperranlage» ist Tatsache geworden. Sie ist die logische Konsequenz der Besetzung des Westjordanlandes im Krieg von 1967. Die prophetischen Worte von Martin Buber sind Realität geworden: Rüsten und rüsten um dagegen gerüstet zu sein! Kein Volk – und schon gar nicht die hartnäckigen Palästinenser – lässt sich auf die Dauer unterdrücken, ohne brutalen militärischen Einsatz. Die IDF – die «Israel Defence Force» – ist schon längst nicht mehr primär eine Verteidigungs- sondern eine Besatzungsarmee. Sie wird von den USA mit täglich (!) rund 11 Mio Dollar alimentiert. Der Krieg von 1967 ist eine schicksalshafte Wende in der Geschichte des Staates Israel:

Jeshajahu Leibovitz war einer der ersten Warner vor der Besatzung:

«Der eigentliche schwarze Tag war der siebte Tag des Sechs-Tage-Krieges. Wir mussten uns damals entscheiden, ob wir einen Verteidigungs- oder einen Eroberungskrieg geführt hatten, und wir entschieden uns für den Eroberungskrieg. An diesem Tag begann der Niedergang Israels.»

Carlo Strenger:

«Die meisten Israelis sahen in den Eroberungen des Sechstagekrieges einen Befreiungsschlag, der dem kleinen Land Sicherheit bringen würde. Rückwirkend stellen sich genau diese Eroberungen als ein Verhängnis heraus.» – «Die Möglichkeit, die Palästinenser zu unterjochen, anstatt ihnen volle politische Recht zuzugestehen, ist für mich als Mensch und Jude eine moralische Unmöglichkeit.»

Mosche Zuckermann:

«Allmählich beginnt man zu begreifen, dass man im Jahre 1967 einen Apfel in den Mund genommen hat, weder fähig war, ihn zu verschlingen, noch ihn auszuspeien. Nun droht man, an ihm zu ersticken.»

30 Die Errichtung jüdischer Siedlungen im besetzten Westjordanland und Ostjerusalem war zudem eine von langer Hand geplante Strategie. Der christlichen Palästinenserin Sumaya Farhat-Naser gingen 1973 die Augen auf. Bei einem Besuch im Amt für Landnutzung zeigte ihr Professor Orni auf einer Landkarte der besetzten Gebiete hundertdreissig Stellen, an denen für die nächsten fünfzig Jahre Siedlungen, bereits mit Namen eingezeichnet, geplant waren.31 Den ersten Plan für strategischen Siedlungsbau erstellte Arbeitsminister Yigal Allon im Sommer 1967. Ihm folgten 1973 der Dayan-Plan, 1977 der Scharon-Plan und 1978 der von Mati Drobless verfasste Plan der Zionistischen Weltorganisation (WZO). Diese offen zugänglichen Dokumente untermauern die langfristige Strategie des israelischen Siedlungsbaus, der auf die Kolonialisierung der palästinensischen Gebiete zielt mit der Absicht, so viel Land mit so wenig Palästinensern wie möglich zu erobern. Alle Regierungen Israels seit 1967, selbst jene, die Friedensverhandlungen führten, haben sich an der Erweiterung des Siedlungswerks beteiligt. Diese Besiedelung und Besetzung erfordert einen wachsenden militärischen Aufwand, vor dem etwa Gershom Gorenberg warnt:

«In Wirklichkeit ist es ein Teufelskreis. Israel fährt mit der Besetzung der Westbank und der Ausweitung der Siedlungen fort. Die polizeiliche Überwachung des Besatzungsgebiets und der militärische Schutz der Siedler sind Sicherheitslasten, die den Bedarf an Kampfsoldaten und Offizieren, denen die Besatzung keine Skrupel bereitet, erhöhen. Um diesen Bedarf zu decken, hängt die Armee immer stärker von Rekruten der religiösen Rechten ab. Doch das erhöht die Gefahr einer Spaltung des Militärs, wenn eine israelische Regierung endlich den Entschluss fällen sollte, sich aus dem Westjordanland zurückzuziehen.»

Die Zukunft

Israel verweigert sich dem Frieden (vgl. Moshe Zuckermann, Die Angst vor dem Frieden33). Das hat eine gewisse Logik. Was Israel will ist Sicherheit und was der Zionismus anstrebt, ist der Besitz dieses ganzen Landes. Echter und gerechter Friede mit den Palästinensern jedoch ist nicht ohne die Bereitschaft zur Teilung des Landes und vor allem nicht ohne Anerkennung der Schuld Israels zu haben.

«Israel legte bis heute seine Grenzen nicht fest. Es liess sich nicht auf die Verhandlungsangebote zu Beginn der Fünfzigerjahre ein; es liess nach 1967 die alte zionistische Politik der Expansion durch Besiedlung wieder aufleben; es liess den in Oslo eingeleiteten Friedensprozess an seinem Unwillen scheitern, die Siedlungen aufzugeben; und es reagierte auch nicht auf das Friedensangebot der Arabischen Liga, die sogenannte Abdallah-Initiative, vom März 2002. Die im November 1988 erfolgte Anerkennung Israels durch die PLO, die ihr folgenden praktischen Schritte und die Bestätigung all dessen in der Abdallah-Initiative waren eine goldene Gelegenheit für Israel, sich in die Region zu integrieren. Es ergriff diese Chance nicht, sondern blieb bei seiner unilateralen Vorgehensweise, wohl um nicht in einer Regelung zu Konzessionen genötigt zu werden.»

Mit seinen drei wichtigsten Nachbarn – Jordanien, Syrien und Ägypten – kam es bereits kurz nach dem Krieg von 1948 zu ersten Kontakten, doch Israel weigerte sich stets, den Frieden durch Zugeständnisse zu erkaufen. Nach dem Krieg 1967 nahm Israel Kontakt zu den Palästinensern und Jordaniern auf. Die Palästinenser waren bereit zu Friedensgesprächen, bestanden aber auf der Gründung eines eigenen Staates, was Israel ablehnte. Nach dem Krieg von 1967 galt für die arabischen Staaten zunächst ein dreifaches Nein: Nein zur Anerkennung Israels, Nein zum Frieden, Nein zu Verhandlungen mit Israel. Doch das änderte sich. Das Verhandlungsangebot der 22 Staaten der Arabischen Liga von 2002 wurde im März 2007 am Gipfel in Riad bestätigt. Israel ging nicht darauf ein. 2006 verfassten prominente palästinensische Gefangene ein Dokument, in dem alle palästinensischen Fraktionen, inklusive die Hamas, ein politisches Programm mit dem Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung präsentierten. Ehud Olmert lehnt ab.35 Israel manövriert sich mit dieser Verweigerung in eine gefährliche Situation. Die eigentliche Bedrohung Israel kommt nicht von aussen, sondern von innen. Alon Liel, ehemaliger Generaldirektor des israelischen Aussenministeriums und Botschafter in Südafrika, sagte 2012:

«Es scheint, dass wir Israelis zum Schluss gekommen sind, keinen Frieden mehr zu brauchen. Hinter der Trennmauer und mit der Armee leben wir mehr oder weniger sicher auch ohne Frieden. (…) Die Besetzung bereitet uns keine grösseren moralischen Probleme. Ausser einer Minderheit, die in Kampfeinheiten dient, bekommt der Durchschnitts-Israeli von der Unterdrückung der Palästinenser nichts mit. Viele von uns meinen, der Konflikt lasse sich für immer einfach managen und Israel habe kein ‚Palästinenserproblem‘ mehr. Das ist Selbstbetrug. Das Siedlungswachstum droht die Zweistaatenlösung unmöglich zu machen. Israel nähert sich einer Situation, in der die Einstaatenlösung mit gleichen Rechten für alle der einzige Ausweg werden könnte. Das ist das Modell Südafrika. Als früherer israelischer Botschafter in Südafrika kann ich beurteilen, ob das ein Modell wäre für Israel/Palästina. (…) Trotz meiner tiefen Bewunderung für die südafrikanische Konfliktlösung – für Israel würde sie das Ende des jüdischen Staates bedeuten.»

Seit dieser Einschätzung sind weitere sieben Jahre vergangen. Wenn Israel sich weiterhin der Zweistaaten-Lösung verweigert – und der ununterbrochene Ausbau der Siedlungen sowie die strikte Abriegelung des Gazastreifens schaffen Fakten in diese Richtung –, dann bleibt nur noch die Grundoption eines binationalen Staates, in dem alle Menschen die gleichen Rechte haben.

«Die Zukunft birgt die Apartheid in sich. Keine zwei Staaten? Dann nur einen Staat. Nicht einen demokratischen und von Gleichheit getragenen Staat, einen Staat all seiner Bürger? Dann nur einen Apartheid-Staat. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.» Gideon Levy

Gleich welche Lösung die Zukunft bringen wird – und eine Lösung, so unvollkommen sie sein mag, steht dringend an: Das zionistische Projekt, das auf das ganze Land für Juden (allein) zielt, ist gescheitert! Es leben heute im ganzen Gebiet Israel/Palästina inklusive Westjordanland und Gaza bald gleich viele Palästinenser wie jüdische Israelis. Wie wahr ist die Aussage von Robert Weltsch 1925 (vgl. oben Seite 1): «Palästina wird stets von zwei Völkern bewohnt sein, von Juden und Arabern.» Das ist auch den christlichen Palästinensern bewusst, wenn sie in ihrem «Kairos-Dokument» festhalten: «Unsere und ihre Zukunft gehören zusammen. Entweder wird der Zyklus der Gewalt beide Seiten vernichten oder der Friede wird beiden Seiten zugute kommen» (4.3).

Das Ende des Zionismus ist jedoch nicht das Ende des Staates Israel. Aber es braucht eine neue Vision für diesen Staat und dieses Land. Das Problem ist dabei nicht das Judentum, sondern der Zionismus:

«Das Problem bei Israel war nie sein Judentum – es hat viele Gesichter und davon bieten viele eine solide Basis für Frieden und Zusammenleben; es ist vielmehr der ethnisch zionistische Charakter.»

Nir Baram, israelisch-jüdischer Schriftsteller, geb. 1977, hat die Vision einer israelischen Identität, die umfassender als die «jüdische» ist:

«Wir brauchen eine umfassende Identität, die auch anderen ethnischen Gruppen offensteht. Es muss möglich sein, ein jüdischer, ein palästinensischer, rumänischer oder christlicher Israeli zu sein. Das wäre das neue Israel, das wir so dringend brauchen.»

Der christliche Zionismus und die Kirchen

Der christliche Zionismus ist primär in den evangelischen Freikirchen und konservativen christlichen Kreisen der USA beheimatet. Er ist jedoch auch in den etablierten Kirchen der Schweiz, d.h. auch in den Reformierten Landeskirchen verbreitet. Wobei diese in erster Linie den Mantel des Schweigens über das «heikle» Thema «Israel/Palästina» ausbreiten. Das Dokument «Kairos-Palästina. Die Stunde der Wahrheit. Ein Wort des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe aus der Mitte des Leidens der Palästinenser und Palästinenserinnen» vom Dezember 2009 hat viele Kirchen rund um den Globus wachgerüttelt. Kaum jedoch die Schweizer Kirchen. Erstmals liessen sich die christlichen Kirchen Palästinas laut und deutlich in einem gemeinsamen Aufruf vernehmen. Ihr «Schrei der Hoffnung in einer hoffnungslosen Situation» wurde hierzulande nicht gehört. Ihre Bitte, «ein Wort der Wahrheit zur israelischen Besetzung palästinensischen Landes zu sagen» und «jede Theologie, die die Besetzung rechtfertigt und dabei vorgibt, sich auf die Bibel oder auf den Glauben oder die Geschichte zu stützen» abzulehnen, wurde nicht aufgegriffen. Im Gegenteil: Das Dokument wurde gleich als unausgewogen kritisiert, die Autoren des Dokuments als unglaubwürdig bezeichnet und der Aufruf zum gewaltlosen Widerstand nicht wirklich ernst genommen. Das Dokument verschwand in den Schubladen.

Dem Vatikan muss allerdings zugute gehalten werden, dass er am 13. Mai 2015 den Staat Palästina anerkannt hat und sich seit langem schon mit den palästinensischen Christen solidarisch zeigt. Der ehemalige lateinische Patriarch von Jerusalem (das katholische Oberhaupt des Heiligen Landes), Michel Sabbah, brauchte deutliche Worte zur palästinensischen Identität der dortigen Christinnen und Christen:

«In Palästina und in Israel gibt es Bestrebungen, die Christen davon zu überzeugen, dass sie als religiöse Gemeinschaft eine Minderheit darstellen und zu keinem Volk gehören, was absurd ist. (…) Auch läuft seit einigen Jahren eine Kampagne, mit der man eine angebliche Verfolgung der Christen durch Muslime herauszustellen sucht. (…) Ob Christen oder Muslime – wir sind ein Volk. Wir haben unsere Wurzeln in demselben Land, nämlich Palästina. Wir gehören gemeinsam zum Boden, zu dem Land, und wir gestalten heute gemeinsam unsere Geschichte».

Die prophetische Minderheit

Die christlichen Zionisten gehören zu den schlimmsten Freunden Israels. Ähnlich den falschen Propheten zu biblischen Zeiten klopfen sie der israelischen Regierung auf die Schultern und ermutigen sie: Seid stark, Gott ist auf eurer Seite, das Land gehört euch, ihr werdet siegen! Damit machen sie sich schuldig am palästinensischen Volk und helfen mit, den Weg Israels ins Verderben zu ebnen. Es ist jedoch an der Zeit, die prophetische Minderheit des heutigen Israels und Judentums zu unterstützen. Sie sind das Ruhmesblatt des Judentums. Und wie im alten Israel werden sie auch heute missachtet und verachtet. Marc Ellis sieht das Prophetische als das grosse Geschenk des Judentums an die Welt. Und in der Tat: Die vielen jüdischen Menschen und Organisationen, die sich unermüdlich für einen gerechten Frieden einsetzen, sind das wahre «Israel». Sie sind beseelt von den echten jüdischen Werten, von denen das christliche Abendland so sehr profitiert hat, ohne es den jüdischen Mitmenschen zu danken. Wenn es in diesem Konflikt einen göttlichen Lichtschein gibt, dann in dem Einsatz dieser Menschen, die gegen den Strom schwimmen oder schwammen.

Neben den in diesem Dokument zitierten Jüdinnen und Juden – Nir Baram, Martin Buber, Avraham Burg, Eli’az Cohen, Albert Einstein, Marc Ellis, Gershom Gorenberg, Jeff Halper, Felicia Langer, Jeshajahu Leibowitz, Gideon Levy, Alon Liel, Hayjo Meyer, Ilan Pappe, Carlo Strenger, Moshe Zuckermann – sind unter vielen anderen erwähnenswert: Uri Avnery, Avram Noam Chomsky, Alfred Grosser, Amos Gvirtz, Amira Hass, Evelyn Hecht-Galinski, Iris Hefets Amsalem (Iris Borchardt-Hefets), Abraham Melzer, Reuven Moskovitz, Israel Shahak, Rolf Verleger.

Einiger dieser jüdischen Menschen engagieren sich – zusammen mit vielen anderen – in jüdischen bzw. israelischen Friedensorganisationen innerhalb und ausserhalb Israels. Diese setzen sich unermüdlich und oft gegen heftige Anfeindungen für einen gerechten Frieden und für die Beendigung der israelischen Okkupation ein:

  • Bat-Shalom – Töchter des Friedens: Israelische Frauen, die engen Kontakt zu palästinensischen Frauengruppen suchen. Die Aktivistinnen beider Seiten halten regelmässige Mahnwachen in Jerusalem als “Frauen in Schwarz”.
  • BIB – Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung – Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern. Zu den Gründungsmitgliedern gehören Norman Paech und Nirit Sommerfeld.
  • Breaking the Silence: Israelische Soldaten brechen das Schweigen über die Realität der Besatzung, mit der sie konfrontiert sind. Die Besatzung ist keine Lösung und muss beendet werden, denn eine Militärherrschaft über eine Zivilgesellschaft ist weder moralisch noch menschlich vertretbar.
  • B’Tselem: Wörtlich “nach dem Bild von”: Das israelische Zentrum für Menschenrechte in den besetzten Gebieten. Wie auch immer eine Friedenslösung aussehen mag: Die fortwährende Besatzung ist keine Option.
  • Combatants for Peace: Seit 2005 treffen sich ehemalige israelische Soldaten und palästinensische Kämpfer, um sich gegenseitig ihre Geschichte zu erzählen und sich gemeinsam für ein Ende der Gewalt und eine Ende der israelischen Besatzung mit gewaltfreien Mitteln einzusetzen.
  • Gush Shalom: Der Friedensblock. Gründungsmitglied war Uri Avnery. Seit 1993 setzt sich dieser «harte Kern» der Friedensarbeit für die gegenseitige Anerkennung beider Völker, ein Ende der israelischen Besatzung und einen unabhängigen souveränen Staat Palästina ein.
  • Israeli Committee Against House Demolitions ICAHD: Das Komitee gegen die Hauszerstörungen in den besetzten Gebieten. Gründungsmitglied war Amos Gvirtz. ICAHD fokussiert seine Aktivitäten auf die israelische Politik der Zerstörung von palästinensischen Häusern – seit 1967 gegen 50’000.
  • Jewish Voice for Peace: Die jüdische Stimme für Frieden richtet sich gegen anti-jüdische, antimuslimische und anti-arabische Angriffe und unterstützt die Beendigung der israelischen Besatzung, Sicherheit und Selbstbestimmung für Israelis und Palästinenser sowie eine gerechte Lösung für palästinensische Flüchtlinge gemäss internationalem Recht.
  • Jewish Liberation Theology Institute: Das Institut für eine jüdische Befreiungstheologie möchte das Beste der jüdischen Tradition aufnehmen und jüdische Menschen ermutigen, sich für Gerechtigkeit und Frieden in Solidarität mit Palästina einzusetzen.
  • Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina: Eine in Zürich 2002 gegründete Gruppe von Frauen und Männern jüdischer Herkunft, die Friedensinitiativen in Israel und Palästina unterstützt, friedensuchende Stimmen aus Israel und Palästina der schweizerischen Öffentlichkeit zugänglich macht und eine Plattform für jüdische und palästinensische Frauen und Männer in der Schweiz unterhält.
  • Physicians for Human Rights: Die israelischen Ärzte und Ärztinnen für Menschenrechte behandeln kostenlos palästinensische Patienten in den besetzten Gebieten. Da palästinensische Krankenversicherungen in israelischen Krankenhäusern nicht gelten, sind Palästinenser auf solche kostenlose Unterstützung angewiesen.
  • Rabbis for Human Rights: Die Rabbiner für Menschenrechte sehen sich seit 1988 als Stimme des Gewissens in Israel. 2005 erhielt die Organisation den Niwano-Friedenspreis. Die Rabbiner verschiedener Richtungen leisten passiven Widerstand während der jährlichen Übergriffe jüdischer Siedler bei der Olivenernte.
  • Schalom Achschaw – Peace Now – Friede jetzt: Die grösste Friedensbewegung in Israel, gegründet 1978 von israelischen Reserveoffizieren, mit moderaten Gegnern einer militärischen und Befürwortern einer politischen Lösung des Nahostkonflikts. Ziel ist es, die Öffentlichkeit und die israelische Regierung von der Notwendigkeit und Möglichkeit zu überzeugen, «einen gerechten Frieden und eine historische Versöhnung mit dem palästinensischen Volk wie den arabischen Nachbarn zu erreichen».
  • Ta’ajusch: (Zusammenleben). Eine jüdisch-palästinensische Friedensbewegung Israels. Ta’ajusch organisiert Lebensmitteltransporte in abgeriegelte Palästinenserdörfer, schützt palästinensische Bauern vor der Vertreibung durch die israelische Armee und leistet andere praktische Hilfe.
  • Women Wage Peace: (wage war bedeutet Krieg führen, ins Feld ziehen – diese Frauen «ziehen ins Feld» für den Frieden). Eine Graswurzel-Bewegung von Frauen aus allen politischen Lagern, Jüdinnen und Araberinnen, religiös und säkular, aber vereint im Einsatz für eine gewaltlose Vereinbarung zwischen Israelis und Palästinensern.
  • Yesch Gvul: (Es gibt eine Grenze). Die Organisation unterstützt israelische Soldaten, die den Kriegsdienst in den besetzten Gebieten verweigern. Kriegsdienstverweigerern drohen in Israel mehrjährige Gefängnisstrafen. Unter anderem übernimmt Yesch Gvul Gerichtsskosten der Verweigerer.
  • Zochrot: (Wir erinnern uns), setzt sich ein für die Erinnerung an die Nakba, die in Israel weitgehend ausgeblendet oder verharmlost wird. Mit Dokumentationen, Publikationen und Kunst soll die «Katastrophe» der Vertreibung der Palästinenser ins Bewusstsein geholt werden.

Es ist höchste Zeit, dass die Kirchen sich vom christlichen Zionismus distanzieren und aktiv sowohl die Bewegung Kairos-Palästina der palästinensischen Christinnen und Christen wie auch die jüdischen und israelischen Friedensaktivistinnen und -aktivisten und Friedensorganisationen unterstützen!

Zion

Zion Zion ist mehr als Jerusalem. Es ist Ort der Sehnsucht der Juden im babylonischen Exil, der heilige Berg, die Stadt Gottes, der Wohnsitz Gottes. Von Zion aus geht der Segen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Vom Zion her erstrahlt Gott. Vom Zion her geht die Weisung, das Wort Gottes hinaus in die Welt. – Martin Buber zitiert, wie erwähnt, öfters Jesaja 1,27: «Zion wird losgekauft werden durch Recht, und seine Bekehrten mit Gerechtigkeit.» Nun, der Staat Israel ist errichtet. Man kann ihn durchaus als Erfolgsmodell betrachten: Jüdische Menschen, die dem Holocaust entflohen sind, haben hier eine neue Heimat gefunden, ihre alte Sprache widerbelebt, eine hochmoderne und wissenschaftlich, wirtschaftlich und kulturell erfolgreiche Nation geschaffen. Was dabei «jüdisch» ist, dessen sind sich die Juden selber nicht einig. Gershom Gorenberg bringt es mit jüdischem Humor auf den Punkt:

«Natürlich wird es unter den Juden keine Einigung darüber geben, was es heisst, jüdisch zu sein oder in einem Land zu leben, wo die öffentliche Sphäre überwältigend jüdisch ist. Das ist vielleicht die beste Definition eines jüdischen Staates: ein Ort, wo Juden mit der grössten Unbefangenheit in breitester Öffentlichkeit darüber debattieren können, was es bedeutet, ein Jude zu sein.»

Doch die Tragik bleibt: Israel ist nicht auf dem Fels von Recht und Gerechtigkeit gegründet, sondern auf Sand gebaut, auf einem fatalen Unrecht: Auf der fortlaufenden Vertreibung und Unterdrückung eines anderen Volkes. Die Sicherheit Israels ist trügerisch und der Friede nicht in Sicht. Und von der Erfüllung biblischer Verheissungen sind wir noch weit entfernt. Die biblische Vision für Zion ist eine umfassendere:

«Juble laut, Tochter Zion, jauchze, Tochter Jerusalem, sieh, dein König kommt zu dir, gerecht und siegreich ist er, demütig und auf einem Esel reitend. (…) Und ich werde die Streitwagen ausrotten in Efraim und die Pferde in Jerusalem. Und der Kriegsbogen wird ausgerottet. Und er verheisst den Nationen Frieden.» (Sacharja 9,9-10)

Der Esel war das Arbeitstier – und ist es teilweise noch heute: Der treue und genügsame Begleiter arabischer Bauern und Händler. Das Pferd war das Kriegsross. Heute sind es nicht mehr Streitwagen und Kriegspferde, wohl aber bewaffnete israelische Soldaten, Panzer, Mauern und Stacheldraht, welche das Bild Jerusalems und der palästinensischen Gebiete prägen. Das Ziel kann es nicht sein, Jerusalem zur «ungeteilten Hauptstadt» des Staates Israel zu machen. Die biblische Vision erfüllt sich, wenn Israel eine offene Stadt ohne Mauern ist (Sach 2,8-9), eine Stadt des Friedens für beide Völker, ja für alle Völker:

«Viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt und lasst uns hinaufziehen zum Berg des Herrn. (…) Denn vom Zion wird Weisung ausgehen und das Wort des Herrn von Jerusalem. Und er wird für Recht sorgen zwischen den Nationen und vielen Völkern Recht sprechen. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Speere zu Winzermessern.» (Jesaja 2,2-4)

Jerusalem zur «alleinigen, ungeteilten Hauptstadt» des Staates Israel zu machen ist eine nationalistische Engführung und mit Sicherheit kein Indiz göttlichen Eingreifens. Die biblische Vision für «Zion» ist eine andere.

Peter Dettwiler, reformierter Theologe
November 2019
peter.dettwiler@bluewin.ch / www.kairos-palaestina.ch

Christlicher Zionismus (PDF)

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