kontertext: Nicht jede Israel-Kritik ist Antisemitismus

22. Feb 2021 | Tatsachen

Originaltext: https://www.infosperber.ch/politik/kontertext-nicht-jede-israel-kritik-ist-antisemitismus/
Autor: Felix Schneider
Datum: 21.01.2021

Wenn’s um Jüdisches geht, so greift die NZZ gerne auf den Rechtsausleger Michael Wolffsohn zurück. Jüngst hat dieser Spezialist fürs Gröbere wieder zugeschlagen: Die Israel-Boykott-Bewegung BDS wolle, so schreibt er, «Israel als jüdischen Staat» vernichten. Damit gefährde sie «unbestreitbar strukturell das Überleben aller Juden». Wenn Kulturschaffende das anders sehen, so betreiben sie nur «Pro-BDS-Protest» und gehören zu den «nützlichen Idioten der Antisemiten». Im kurzen Schluss-Schlenker polemisiert Wolffsohn gegen die Justiz und ihre Urteile zur Meinungsfreiheit im Lande.

Was in Wolffsohns grotesk verzerrtem Bild teils ausgeblendet, teils diffamiert wird, wäre das Wesentliche: Eine bedeutende Bewegung von Intellektuellen und Juristen zur Rettung der Meinungsäusserungsfreiheit.

Keine Idioten

Als Heilmittel gegen das Gift der NZZ empfehle ich, sich den Mitschnitt einer Pressekonferenz im Deutschen Theater zu Berlin anzusehen. Dort präsentierte sich am 10.12.2020 die Initiative «GG 5.3 Weltoffenheit».   GG steht für Grundgesetz, 5 ist der Paragraph, der die Freiheit der Meinungsäusserung und in Absatz 3 insbesondere die Freiheit der Wissenschaft und der Kunst garantiert. Auf der Pressekonferenz sind zahlreiche hochrangige VertreterInnen bedeutender Institutionen aus Kultur, Wissenschaft und Bildung zu sehen und zu hören. Sie alle sind weder Antisemiten noch Idioten. Sie wahren kritische Distanz zur BDS, wollen aber die von der Antisemitismuskeule ernsthaft bedrohte oder schon eingeschränkte Freiheit der Meinungsäusserung und die Freiheit der internationalen Kooperation verteidigen. Sie sehen, dass es gute Gründe gibt, BDS zu kritisieren oder abzulehnen, aber keine Gründe, Diskussionen mit oder über BDS und deren sogenannten Sympathisanten von Staats wegen zu verbieten.

Missbrauch des Antisemitismus-Vorwurfs

Unter dem Vorwand der Antisemitismus-Bekämpfung breitet sich in Deutschland (und nicht nur dort) eine Kultur des Verdachts und der Entlarvung aus. Mehr als hundert gut dokumentierte Fälle belegen Behinderung, Verhinderung und Zensur von Veranstaltungen über den Nahostkonflikt. Irgendwann einmal mit einem BDS-Mitglied auch nur auf einem Podium gesessen zu haben, führt heute zu einem Auftrittsverbot. Der kamerunische Philosoph Achille Mbembe wurde amtlich zur persona non grata erklärt. Auf die inhaltliche Ausrichtung des Jüdischen Museums in Berlin wurde massiv Druck ausgeübt. Cilly Kugelmann, die pensionierte langjährige Programmdirektorin des Museums, sagte in der taz: «Das Museum recherchiert jetzt bei jedem, der eingeladen wird, ob er irgendwann irgendwas mit BDS unterschrieben hat. Das ist die Praxis des Jüdischen Museums Berlin. Ich habe diese Kultur des Verdachts McCarthyismus genannt. Sa’ed Atshan, der eine Professur in den USA hat und in Berlin über Homosexualität in Palästina reden sollte, wurde wieder ausgeladen, weil er mal was für BDS unterschrieben hatte.»

Hintergrund des Treibens ist die Entscheidung der israelischen Regierung, die von zahlreichen palästinensischen Organisationen gegründete Israel-Boykott-Bewegung BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) für antisemitisch und zu einem Hauptfeind Israels zu erklären, was dieser weitgehend erfolglosen und ziemlich unbedeutenden Bewegung internationales Aufsehen verschafft hat. In der Folge erklärten zahlreiche deutsche Länder- und Gemeindeparlamente, und schliesslich auch der Deutsche Bundestag (dieser am 15.5.2019) BDS ebenfalls für antisemitisch und verkündeten eine Art Gegenboykott gegen die Boykottbewegung: Keine Räume, keine Unterstützung sowohl für BDS als auch für BDS-UnterstützerInnen.

Nehmen wir als Beispiel München: Am 13.12.2017 verbot der Stadtrat sogar, sich mit der BDS auch nur zu befassen. Ziel sei es, so erklärte er, «befürwortende ebenso wie kritische Veranstaltungen, die sich mit Inhalten, Themen und Zielen der BDS-Kampagne befassten» in städtischen Räumen zu verhindern.

Gegenwind

Gegen die staatlichen Eingriffe in die Freiheit von Diskussion, Lehre, Forschung und Kultur regt sich Widerstand. Ganz grundsätzlich erklärt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinem bedeutenden Urteil vom 17. November 2020 (Az. 4 B 19.1358) den erwähnten Münchner Stadtratsbeschluss für einen «unzulässigen Eingriff in die Meinungsäusserungsfreiheit», zumal die Stadt München es darauf abgesehen hat, «jegliche (…) Meinungsbekundung zur BDS-Kampagne in ihren Räumlichkeiten zu verhindern.» Das Gericht macht deutlich, dass «Äusserungen Privater» «unabhängig von der inhaltlichen Bewertung ihrer Richtigkeit oder Gefährlichkeit» geschützt sind: «Das Grundgesetz baut zwar auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen; es erzwingt diese Werteloyalität aber nicht (…). Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst demzufolge auch extremistische, rassistische oder antisemitische Äusserungen (…)».

Eingriffe in die Freiheit der Meinungsäusserung, so das Gericht, seien erst dann gerechtfertigt, wenn «Meinungsäusserungen die rein geistige Sphäre des Für-richtig-Haltens verlassen und in Rechtsgutverletzungen oder in Gefährdungslagen umschlagen», d.h. wenn die «Friedlichkeit öffentlicher Auseinandersetzung» bedroht, oder der «Übergang zu Aggression oder Rechtsbruch» gegeben sind. Im Falle einer Diskussion über Israel konnte das Gericht, selbst unter BDS-Beteiligung, «keine konkrete Rechtsgutgefährdung» erkennen.

Aufgrund zahlreicher Konflikte um Veranstaltungsräume in anderen Städten gibt es unterdessen ähnliche Gerichtsurteile aus Bonn, Lüneburg und Frankfurt am Main. Sogar eine Klage gegen den Deutschen Bundestag selbst wegen seines BDS-Beschlusses steht an.

Illiberale Demokratie

Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages stellen in einer «Ausarbeitung» vom 21.12.2020 fest, dass der BDS-Boykott-Beschluss des Bundestags vom Mai 2020 eine blosse Meinungsäusserung des Parlaments sei und «daher keine rechtliche Bindungswirkung für andere Staatsorgane» habe. Städte, Kommunen und Organisationen könnten also einladen, wen sie wollen. Könnten! Sie machen es aber nicht, der politische Druck ist ihnen oft zu hoch, der Gehorsam zu bequem, das Risiko der Freiheit zu gross. Wie die Politik hier, mitten in der Gesellschaft, den Rechtsstaat umgeht, ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie die liberale zur illiberalen Demokratie sich entwickeln kann.

Trump und seine Nachfolger

Die Parlamentsbeschlüsse und die öffentlichen Debatten berufen sich immer und immer wieder auf die Arbeitsdefinition des Antisemitismus, wie sie 2005 vom European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia erarbeitet und später von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) übernommen wurde. Infosperber hat diese Definition im Wortlaut zusammen mit einer kritischen Stellungnahme abgedruckt.

Sie ist für die alltägliche Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus von heute unbrauchbar, da sie, v.a. in den Beispielen, die sie anführt, fast nur auf den israelbezogenen Antisemitismus abhebt und den religiösen, nationalistischen und völkischen, den Weltverschwörungs-Antisemitismus, mit dem wir es heute meist zu tun haben, fast ganz ausklammert. In der eingangs erwähnten Pressekonferenz verwies Stefanie Schüler-Springorum, Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, auf die interessante Geschichte dieser Arbeitsdefinition. Einer ihrer wichtigsten Autoren, Kenneth Stern, verwahrte sich vor gut einem Jahr im Guardian strikt gegen die politische Instrumentalisierung dieser Arbeitsdefinition. Er schrieb u.a.:

“Fifteen years ago, as the American Jewish Committee’s antisemitism expert, I was the lead drafter of what was then called the “working definition of antisemitism”. It was created primarily so that European data collectors could know what to include and exclude. That way antisemitism could be monitored better over time and across borders.

It was never intended to be a campus hate speech code, but that’s what Donald Trump’s executive order accomplished this week. This order is an attack on academic freedom and free speech, and will harm not only pro-Palestinian advocates, but also Jewish students and faculty, and the academy itself.”

Sterns Prognose einer Attacke auf die akademischen Freiheiten und die Freiheit des Wortes hat sich mehr als erfüllt. Sein Protest im Guardian erschien genau einen Tag, nachdem Trump das Dekret unterzeichnet hatte, das die politische Instrumentalisierung der Arbeitsdefinition einleitete. Trump hat zahlreiche Nachfolger gefunden, auch in Europa. Zuletzt sogar, und das ist wirklich verwirrend, hat überraschend Paul Rechsteiner, der sich in der Materie auskennt, im Ständerat beantragt, der Bundesrat möge die IHRA-Arbeitsdefinition übernehmen und über deren Verwendung berichten. Will er den Bundesrat listig dazu bringen, die Unbrauchbarkeit der Arbeitsdefinition einzugestehen? Oder schliesst er sich dem Trend zur missbräuchlichen Verwendung des Antisemitismusbegriffs an?

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